Laut Urteil des LSG Sachsen vom 19.05.2022 ist die Sozialversicherungspflicht des angestellten GmbH-Gesellschafters trotz Prokura zu bejahen. Ungeachtet seiner Vertretungsberechtigung als Prokurist ist der angestellte Gesellschafter grundsätzlich an die Weisungen der Geschäftsführer gebunden. Ein Gesellschafter mit hälftiger Beteiligung am Stammkapital verfügt nicht über die Rechtsmacht, die Zuständigkeitsverteilung zwischen Geschäftsführung und Gesellschafterversammlung zu verändern.

Inhalt:

  1. Sachverhalt und Besonderheit des Urteils des LSG Sachsen vom 19.05.2022
  2. Grundsätze zur Beurteilung der Sozialversicherungspflicht angestellter Gesellschafter der GmbH
  3. Angestellter GmbH-Gesellschafter ungeachtet seiner Stellung als Prokurist abhängig beschäftigt
  4. Angestellter Gesellschafter mit hälftiger Beteiligung am Stammkapital grundsätzlich abhängig beschäftigt
  5. Schuldrechtliche Vereinbarungen außerhalb des Gesellschaftsvertrages unbeachtlich

1. Sachverhalt und Besonderheit des Urteils des LSG Sachsen vom 19.05.2022

Mit Urteil vom 19.05.2022 (L 9 KR 558/17) hat das LSG Sachsen den Rechtsstreit einer GmbH mit der Deutschen Rentenversicherung rund um die Frage der Sozialversicherungspflicht des mitarbeitenden Gesellschafters entschieden. Die Besonderheit des Rechtsstreit besteht darin, dass der hälftig am Stammkapital beteiligte Gesellschafter gleichzeitig Prokurist der GmbH und auf dieser Basis vertretungsberechtigt ist.

Im Rahmen eines Statusfeststellungsverfahrens hatte die Deutsche Rentenversicherung festgestellt, dass der mitarbeitende Gesellschafter ungeachtet seiner Vertretungsberechtigung als Prokurist bei der GmbH abhängig beschäftigt und infolgedessen der Sozialversicherungspflicht unterliegt. Das SG Leipzig hatte der Klage der GmbH gegen den Feststellungsbescheid der DRV stattgegeben und die Selbstständigkeit des Gesellschafters bejaht.

2. Grundsätze zur Beurteilung der Sozialversicherungspflicht des angestellten GmbH-Gesellschafters

Grundsätzlich gelten für die Geschäftsführer einer GmbH die gleichen Grundsätze, um eine abhängige Beschäftigung von der selbständigen Tätigkeit abzugrenzen (zuletzt BSG, Urteil vom 23.02.2021, B 12 R 18/18 R; BSG, Urteil vom 08.072020, B 12 R 2/19 R). Und auch für die in einer GmbH angestellten Gesellschafter kann nichts anderes gelten (zuletzt BSG, Urteil vom 12.05.2020, B 12 KR 30/19 R).

Angestellte GmbH-Gesellschafter grundsätzlich abhängig beschäftigt

Allerdings ist ein angestellter GmbH-Gesellschafter, der nicht zum Geschäftsführer bestellt wurde, regelmäßig abhängig beschäftigt. Allein aufgrund seiner Rechte als Gesellschafter verfügt er nicht über die Rechtsmacht, eine Bindung an Weisungen der Geschäftsführer aufzuheben. Das Weisungsrecht gegenüber den Angestellten der GmbH obliegt nicht der Gesellschafterversammlung. Es ist vielmehr Teil der laufenden gewöhnlichen Geschäftsführung. Abweichungen hiervon sind zulässig, müssen allerdings im Gesellschaftsvertrag der GmbH vereinbart werden.

Hiervon ausgenommen sind Gesellschafter, die kraft ihrer gesellschaftsrechtlichen Position oder kraft ihres Anteils am Stammkapital letztlich auch die Leitungsmacht gegenüber der Geschäftsführung haben und somit nicht mehr deren Weisungsrecht unterliegen (stRspr; BSG, Urteil vom 29.06.2021, B 12 R 8/19 R; BSG, Urteil vom 12.05.2020, B 12 KR 30/19 R).

3. Angestellter GmbH-Gesellschafter ungeachtet seiner Stellung als Prokurist grundsätzlich abhängig beschäftigt

Nach diesen Maßstäben hat das LSG mit Urteil vom 19.05.2022 (L 9 KR 558/17) entschieden, dass der beigeladene Gesellschafter bei der GmbH ungeachtet seiner Stellung als Prokurist bei der GmbH abhängig beschäftigt ist und somit der Sozialversicherungspflicht unterliegt. Es folgen die wesentliche Gründe für diese Entscheidung.

Zum einen ist zugrundeliegende “Prokuristen-Anstellungsvertrag” durch typische Merkmale eines Beschäftigungsverhältnisses geprägt. Vereinbart war eine “wöchentliche Arbeitszeit von mindestens 40 Stunden“, ein festes Monatsgehalt sowie Weihnachts- und Urlaubsgeld, 40 Arbeitstage Jahresurlaub, Lohnfortzahlung im Urlaubs- und Krankheitsfall sowie eine Absicherung der Altersversorgung. Das Gehalt des Prokuristen wurde im Rahmen der Betriebsausgaben der GmbH verbucht und Lohnsteuer abgeführt. In Ausübung seiner Tätigkeit war er in die betriebliche Organisation der GmbH eingegliedert.

Ferner hat ein angestellter GmbH-Gesellschafter, der nicht zum Geschäftsführer bestellt wurde, allein aufgrund seiner gesetzlichen Gesellschafterrechte in der Gesellschafterversammlung nicht von vorherein die Rechtsmacht, seine Weisungsgebundenheit als Angestellter der Gesellschaft nach Belieben aufzuheben oder auch nur abzuschwächen.

Vorbehaltlich anderweitiger Bestimmungen im Gesellschaftsvertrag obliegen die Dienstaufsicht und das Weisungsrecht über die Angestellten der GmbH der laufenden Geschäftsführung und nicht der Gesellschafterversammlung (BSG, Urteil vom 11.11.2015, B 12 R 2/14; BSG, Urteil vom 19.08.2015, B 12 KR 9/14 R; BSG, Urteil vom 17.05.2001, B 12 KR 34/00 R). Allein der Geschäftsführer führt die laufenden Geschäfte der GmbH, zu denen auch die Ausübung des Weisungsrechts gegenüber den Beschäftigten der Gesellschaft gehörte.

Trotz seiner hälftigen Beteiligung am Stammkapital der GmbH bleibt die Position des angestellten Gesellschafter ungeachtet seiner Stellung als Prokurist deutlich hinter der organschaftlich begründeten Stellung des Geschäftsführers zurück. Der Gesellschaftsvertrag sieht weder eine Einschränkung der Vertretungsbefugnis der Geschäftsführung noch ihres Weisungsrechts gegenüber Angestellten der Gesellschaft vor. Insbesondere ist nach dem Gesellschaftsvertrag der Gesellschafterversammlung nicht das Weisungsrecht gegenüber dem Beigeladenen im Allgemeinen oder für bestimmte Einzelfälle vorbehalten.

LSG Sachsen, Urteil vom 19.05.2022 (L 9 KR 558/17)

4. Angestellter Gesellschafter mit hälftiger Beteiligung am Stammkapital grundsätzlich abhängig beschäftigt

Wie unter den Grundsätzen zur Beurteilung der Sozialversicherungspflicht angestellter Gesellschafter bereits dargestellt geht das LSG Sachsen in der weiteren Urteilsbegründung darauf ein, dass ein hälftig beteiligter Gesellschafter nicht in der Lage ist, die Zuständigkeitsverteilung zwischen Geschäftsführung und Gesellschafterversammlung zu ändern.

Für einen Beschluss der Gesellschafterversammlung ist gem. § 47 Abs. 1 GmbHG grundsätzlich die einfache Mehrheit der abgegebenen Stimmen aller Gesellschafter erforderlich. Mit einer hälftigen Beteiligung fehlt einem Gesellschafter die Rechtsmacht, eine Weisung abwendenden Beschluss der Gesellschafterversammlung herbeizuführen.

Bei gegensätzlicher Stimmabgabe führt sein Stimmrecht zur Stimmengleichheit und damit zu einer Patt-Situation. Allein die bloße Möglichkeit, einen Gesellschafterbeschluss zu verhindern, schließt die Dienstaufsicht der Geschäftsführung über die Angestellten nicht aus (BSG, Urteil vom 29.2.021, B 12 R 8/19 R). Somit ist der angestellte Gesellschafter trotz seiner Prokura rechtlich an die Weisungen des Geschäftsführers gebunden und nicht in der Lage, solche im Bedarfsfall zu verhindern. Bereits aufgrund einer solchen Unterordnung unter den Geschäftsführer ist regelmäßig von einer Beschäftigung auszugehen (BSG, Urteil vom 29.2012, B 12 KR 25/10 R)

LSG Sachsen, Urteil vom 19.05.2022 (L 9 KR 558/17)

5. Schuldrechtliche Vereinbarungen außerhalb des Gesellschaftsvertrages bleiben unbeachtlich

In der weiteren Urteilsbegründung erläutert das LSG Sachsen ausführlich, dass weder der Prokuristen-Anstellungsvertrag noch die notariell beglaubigte Prokura geeignet sind, die Weisungsgebundenheit des angestellten Gesellschafters entfallen zu lassen.

Bei dem Prokuristen-Anstellungsvertrag handelt es sich um eine schuldrechtliche Vereinbarung außerhalb des Gesellschaftsvertrages, die bei der Beurteilung der Sozialversicherungspflicht eines Geschäftsführers oder angestellten Gesellschafters unbeachtlich sind.

Hinsichtlich des Prokuristen-Anstellungsvertrages entspricht es der ständigen Rechtsprechung des BSG, dass schuldrechtliche Vereinbarungen oder Regelungen außerhalb des Gesellschaftsvertrags nicht geeignet sind, die gesellschaftsrechtlich verankerte Rechtsmacht in sozialversicherungsrechtlich relevanter Art zu verändern.

LSG Sachsen, Urteil vom 19.05.2022 (L 9 KR 558/17)

Auch die dem angestellten Gesellschafter erteilte, notariell beglaubigte Prokura ist nicht geeignet, die Rechtsmachtverhältnisse zu verändern.

Mit der Erteilung der Prokura erfolgt zwar die Bestellung zum rechtsgeschäftlichen Vertreter der GmbH (§§ 48 ff. HGB), deren Umfang alle Arten gerichtlicher und außergerichtlicher Geschäfte und Rechtshandlungen umfasst, die der Betrieb eines Handelsgewerbes mit sich bringt (§ 49 Abs. 1 HGB). Ausgenommen sind die Veräußerung und Belastung von Grundstücken (§ 49 Abs. 2 HGB).

Ungeachtet dessen bleibt der Prokurist als rechtsgeschäftlicher Vertreter von vornherein in den gegenständlichen Rahmen des § 49 HGB eingebunden. Die Prokura ist eine Vertretungsmacht für Verkehrsgeschäfte im Außenverhältnis, umfasst aber nicht das Organisationsrecht des Unternehmens. Sie räumt insbesondere keine Rechtsmacht im Hinblick auf das Weisungsrecht der Geschäftsführung ein (BSG, Urteil vom 29.2.021, B 12 R 8/19 R; BGH, Urteil vom 18.10.1976, II ZR 9/75; BGH, Urteil vom 01.02.1999, II ZR 276/97). Vielmehr bleibt der Prokurist im Innenverhältnis an die Weisungen des Geschäftsführers gebunden (BGH, Urteil vom 15.05.2012, VI ZR 166/11). Insbesondere hat der Prokurist kein Vetorecht oder eine vergleichbare Rechtsposition (OLG München, Beschluss vom 25.07.2017, 31 Wx 194/17).

Darüberhinaus hat der Geschäftsführer nicht nur die Vertretungsmacht, sondern auch die Befugnis im Innenverhältnis, eine erteilte Prokura jederzeit ohne Rücksicht auf das der Erteilung zugrundeliegende Rechtsgeschäft gegen dessen Willen zu widerrufen (§ 52 Abs. 1 HGB). Hierfür ist auch kein gesonderter Gesellschafterbeschluß nach § 46 Nr. 7 GmbHG erforderlich. Mangels anderweitiger Regelung im Gesellschaftsvertrag ist nur die Bestellung des Prokuristen, nicht aber der Widerruf unter den Zustimmungsvorbehalt der Gesellschafter gestellt (§ 46 Nr. 7 GmbHG).

Einem angestellten Gesellschafter ist daher ungeachtet einer notariell beglaubigten Prokura keine derart weitgehende Rechtsmacht eingeräumt, die es ihm erlaubt hätte, jegliche Weisungen durch den Geschäftsführer zu verhindern (vgl. BSG, Urteil vom 11.11.2015, B 12 KR 13/14 R).

LSG Sachsen, Urteil vom 19.05.2022 (L 9 KR 558/17)

Alles in allem zeigt auch das Urteil des LSG Sachsen, dass es sich nicht mehr lohnt, mit den alten Kamellen einen Statusfeststellungsbescheid im Hinblick auf einen angestellten Gesellschafter oder GmbH-Geschäftsführer anzugreifen.

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