Ist die Buchführung und/oder Kassenführung eines Unternehmens wegen erheblicher materieller und formeller Mängel nicht ordnungsgemäß, eröffnet dieser Umstand dem Finanzamt die Möglichkeit einer Hinzuschätzung von Umsätzen wegen mangelhafter Buchführung. Das Finanzamt genießt bei der Wahl der Schätzungsmethode einen weiten Spielraum. Allerdings müssen die gewonnenen Ergebnisse aus der Schätzung schlüssig, wirtschaftlich möglich und vernünftig sein. Wie das Urteil des BFH vom 16.12.2021 zeigt, unterliegt der Ermessensspielraum des Finanzamts und des Finanzgerichts gewissen Grenzen.

Schätzungsbefugnis der Finanzverwaltung

Nach § 162 Abs. 1 S. 1 AO hat das Finanzamt die Besteuerungsgrundlagen zu schätzen, soweit sie diese nicht ermitteln oder berechnen kann.

Das Finanzamt hat gem. § 162 Abs. 2 S. 1 AO insbesondere dann eine Schätzungsbefugnis, wenn der Steuerpflichtige über seine Angaben keine ausreichende Aufklärung geben kann, eine weitere Auskunft oder Versicherung an Eides statt verweigert oder seine Mitwirkungspflicht nach § 90 Abs. 2 AO verletzt.

Nach § 162 Abs. 2 S. 2 AO gilt das ebenso in folgenden Fällen:

  • Der Steuerpflichtige kann trotz Buchführungspflicht keine ordnungsgemäßen Bücher oder Aufzeichnungen vorlegen;
  • Die Buchführung oder die Aufzeichnungen können der Besteuerung wegen gravierender Mängel nicht nach § 158 AO zugrunde gelegt werden;
  • Es bestehen tatsächliche Anhaltspunkte für die Unrichtigkeit oder Unvollständigkeit der gemachten Angaben zu steuerpflichtigen Einnahmen oder Betriebsvermögensmehrungen und der Steuerpflichtige erteilt keine Zustimmung nach § 93 Abs. 7 S. 1 Nr. 5 AO.

Hat ein Unternehmen keine ordnungsgemäße Buchführung und/oder keine ordnungsgemäße Kasse geführt, ist die Schätzungsbefugnis des Finanzamts dem Grunde nach grundsätzlich eröffnet.

Formelle Buchführungsmängel berechtigen nach ständiger Rechtsprechung jedoch nur insoweit zur Schätzung, als sie Anlass geben, die sachliche Richtigkeit der Ergbnisse aus der Buchführung anzuzweifeln (z.B. BFH-Urteil vom 25.03.2015, X R 20/13; BFH-Urteil vom 12.12.2017, VIII R 5/14, Rz 38).

Verhältnismäßigkeit der Hinzuschätzung von Umsätzen der Höhe nach

Nach § 162 Abs. 1 S. 2 AO sind bei der Schätzung alle Umstände zu berücksichtigen, die für die Schätzung von Bedeutung sind. Im Wesentlichen gelten für die Hinzuschätzung von Umsätzen durch das Finanzamt folgende Grundsätze:

Die Auswahl der Schätzungsmethode muss das Ziel haben, die Besteuerungsgrundlagen durch Überlegungen der Wahrscheinlichkeit so zu bestimmen, dass sie der Wirklichkeit möglichst nahekommen (vgl. BFH-Urteil vom 22.07.2010, IV R 30/08; BFH-Urteil vom 03.12.2019, X R 5/18, Rz 101).

Die gewonnenen Ergebnisse aus der Schätzung müssen schlüssig, wirtschaftlich möglich und vernünftig sein (z.B. BFH-Urteil vom 17.06.2020, X R 26/18, Rz 23). Diesbezüglich sind einerseits alle möglichen Anhaltspunkte zu beachten und alle Möglichkeiten auszuschöpfen, um im Rahmen des Zumutbaren die Besteuerungsgrundlagen wenigstens teilweise zu ermitteln. Dazu gehören auch das Einwände des Steuerpflichtigen oder eine an sich fehlerhafte Buchführung. Dessen ungeachtet kann ein Schätzungsergebnis nur dann schlüssig, wirtschaftlich möglich und vernünftig sein, wenn feststehende Tatsachen oder Erfahrungssätze berücksichtigt werden (BFH-Urteil vom 15.05.2002, X R 33/99 unter II.2.b).

Im Übrigen ist bei der Abwägung des Zumutbaren auch das Maß der Verletzung der Mitwirkungspflichten zu berücksichtigen (BFH-Beschluss vom 02.06.2014, III B 101/13, Rz 11; BFH-Beschluss vom 26.02.2018, X B 53/17, Rz 7).

Insgesamt muss es möglich sein, die Schätzung nachzuvollziehen, um zu überprüfen, ob das Finanzamt bei der Feststellung der Tatsachen und bei der Beweiswürdigung nach sachfremden Erwägungen oder willkürlich verfahren ist.

Auswahl der Schätzungsmethode durch das Finanzamt

Nach ständiger Rechtsprechung des BFH ist das Finanzamt bei der Wahl der Schätzungsmethoden frei, (z.B. BFH-Beschluss vom 07.02.2017, X B 79/16, Rz 25; BFH-Beschluss vom 21.07.2017, X B 167/16, Rz 18). Gleiches gilt im Streitfall auch für das Finanzgericht.

Die angewandte Schätzungsmethode muss nur geeignet sein, ein vernünftiges und der Wirklichkeit entsprechendes Ergebnis zu erzielen (z.B. BFH-Beschluss vom 13.09.2016, X B 146/15, Rz 16; BFH-Beschluss vom 21.07.2017, X B 167/16, Rz 18). Das Finanzamt muss das gewonnene Ergebnis der Schätzung weder durch die Anwendung einer weiteren Schätzungsmethode überprüfen noch das Ergebnis durch weitere Argumente oder Beweismittel untermauern (BFH-Beschluss vom 13.09.2016, X B 146/15, Rz 16).

Das betroffene Unternehmen hat dagegen keinen Anspruch auf die Anwendung einer bestimmten Schätzungsmethode (BFH-Beschluss vom 14.05.2013, X B 176/12, Rz 21, m.w.N.).

Allerdings unterliegt das Finanzamt bei der Auswahl der Schätzungsmethode dahingehend einer Ermessenspflicht, dass eine bestimmte Schätzungsmethode auszuwählen ist, wenn diese voraussichtlich besser geeignet ist, die Besteuerungsgrundlagen zutreffend zu ermitteln. In diesem Sinne ist ein interner Betriebsvergleich einem externen Betriebsvergleich regelmäßig vorzuziehen, weil kaum ein Betrieb dem anderen gleicht und deshalb dem externen Betriebsvergleich im Allgemeinen ein starkes Unsicherheitsmoment anhaftet (vgl. BFH-Urteil vom 26.04.1983, VIII R 38/82, unter 4.c). Der interne Betriebsvergleich muss allerdings auch unter den Umständen des Einzelfalls gewährleisten, dass bei der Schätzung ein vernünftiges und der Wirklichkeit entsprechendes Ergebnis erzielt wird.

BFU-Urteil vom 16.12.2021 zur Hinzuschätzung von Umsätzen in der Gastronomie

Diese Voraussetzungen waren in dem Streitfall zu dem Urteil des BFH vom 16.12.2021 (IV R 1/18) gerade nicht gegeben. Das Finanzamt hat hier bei der Hinzuschätzung von Umsätzen eines Unternehmens aus der Gastronomie feststehende Tatsachen falsch gewürdigt. Es hat sich im wesentlichen auf zwei Tagesendsummenbons aus dem August gestützt, die bei einer Durchsuchung des Restaurants aufgefunden wurden. Ein solcher interner Betriebsvergleich ist grundsätzlich geeignet, eine Hinzuschätzung von Umsätzen der Höhe nach zu rechtfertigen. Allerdings hat das Finanzamt bei der Hinzuschätzung von Umsätzen der Höhe nach übersehen, dass die Umsätze im August bei einem Restaurant mit großem Außenbereich nicht ohne weiteres auf das Gesamtjahr hochgerechnet werden können. Außerdem ist nicht nachvollziehbar, ob und wie man aus zwei Tagesendsummen einen durchschnittlichen Jahresumsatz ermitteln kann.

Ferner hat das FG die höchsten Rohgewinnaufschlagsätze der Richtsatzsammlung gewählt, ohne näher zu erläutern, welche betrieblichen Verhältnisse dies rechtfertigen. Dabei weist beispielsweise die vom BMF veröffentlichte Richtsatzsammlung für das Kalenderjahr 2009 für den Rohgewinnaufschlag auf den Wareneinsatz von Gast-, Speise- und Schankwirtschaften für Umsätze bis und über 250.000 € jeweils eine Spannbreite von 170 % bis 335 %, durchschnittlich 233 %, aus. Deshalb bedarf die Einordnung des Betriebs der GbR an der obersten Grenze einer besonderen Begründung.

BFH, Urteil vom 16.12.2021 (IV R 1/18)

Grundsätze bei der Hinzuschätzung von Umsätzen

Im Ergebnis muss das Finanzamt bei Hinzuschätzung von Umsätzen zunächst darlegen, aus welchen Gründen sich eine Schätzungsbefugnis ergibt. Ferner muss das Finanzamt erläutern, welche Schätzungsmethode im Einzelfall verhältnismäßig ist. Dazu gehört auch die Prüfung, dass die gewonnenen Ergebnisse aus der Schätzung schlüssig, wirtschaftlich möglich und vernünftig sind.

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