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BFH-Urteil vom 06.09.2023 zur Wegzugsbesteuerung

Der Bundesfinanzhof (BFH) hat im sogenannten Wächtler-Verfahren mit dem Urteil vom 06.09.2023 eine bedeutsame Entscheidung im Zusammenhang mit der Wegzugsbesteuerung in Deutschland getroffen. Demnach ist bei einem Wegzug in die Schweiz eine Wegzugsteuer auf den Vermögenszuwachs einer GmbH-Beteiligung gem. § 6 AStG zwar zulässig, aber gegen eine Sicherheitsleistung dauerhaft und zinslos zu stunden. Das Urteil des BFH, das zum früheren Recht erging, lässt sich auf die seit dem 1. Januar 2022 geltende Rechtslage übertragen und gilt in strengerem Maße auch für einen Wegzug in EU- bzw. EWR-Staaten, wobei in diesen Fällen auf eine Sicherheitsleistung verzichtet wird.

Inhalt:

  1. Rechtslage zur Wegzugsbesteuerung gem. § 6 AStG
  2. Sachverhalt zum BFH-Urteil vom 06.09.2023
  3. BFH-Urteil vom 06.09.2023 zur Wegzugsbesteuerung
  4. Weitere Rechtsfolgen aus dem Urteil des BFH vom 06.09.2023

1. Wegzugsbesteuerung gem. § 6 AStG

Nach § 6 AStG greift eine sog. Wegzugsbesteuerung, wenn eine natürliche Person, die Geschäftsanteile einer Kapitalgesellschaft im Umfang von mindestens 1% hält, die unbeschränkte Steuerpflicht in der Bundesrepublik Deutschland beendet und ins Ausland umzieht. In diesem Fall wird eine fiktive Veräußerung der Beteiligung zum gemeinen Wert unterstellt, der dem Verkehrswert entspricht. Der Gesellschafter wird aufgefordert, Angaben zur Bewertung der Geschäftsanteile zu machen, anderenfalls wird der Verkehrswert unter Anwendung der §§ 199 ff. BewG ermittelt, was aus steuerlichen Gesichtspunkten die denkbar schlechteste Bewertungsmethode ist. Anschließend setzt das Finanzamt im Jahr des Wegzugs eine Einkommensteuer auf 60% des fiktiven Veräußerungsgewinns fest.

Erfolgte der Wegzug noch vor dem 01.01.2022 in einen EU- oder EWR-Staat, wurde die im Einkommensteuerbescheid festgesetzte Wegzugsteuer unter bestimmten Voraussetzungen dauerhaft, zinslos und ohne Sicherheitsleistung gestundet (§ 6 AStG a.F.). Bei einem Wegzug in die Schweiz war diese sogenannte Ewigkeitsstundung nach dem Gesetzeswortlaut des § 6 AStG allerdings nicht vorgesehen, allenfalls eine Ratenzahlung der festgesetzten Einkommensteuer. 

2. Sachverhalt zum BFH-Urteil vom 06.09.2023

Im Streitfall des sogenannten Wächtler-Verfahrens ging es darum, ob das Finanzamt eine Wegzugsteuer gemäß § 6 AStG für das Jahr 2011 festsetzen darf, nachdem der Kläger von Deutschland in die Schweiz gezogen ist, wo er seitdem lebte. Der Kläger, ein deutscher Staatsangehöriger, war seit ihrer Gründung im Jahr 2008 geschäftsführender Gesellschafter einer GmbH in der Schweiz und zu 50 % an dieser beteiligt. Nach dem Wegzug des Klägers aus Deutschland in die Schweiz ermittelte das Finanzamt einen fiktiven Veräußerungsgewinn gemäß § 6 Abs. 1 AStG und erließ im November 2014 einen entsprechenden Einkommensteuerbescheid, in dem die Wegzugsteuer festgesetzt wurde. Bei den zugrundeliegenden Besteuerungsgrundlagen berücksichtigte das Finanzamt Einkünfte aus Gewerbebetrieb im Sinne des § 6 AStG i.V.m. § 17 EStG.

Hiergegen legte der Kläger zunächst Einspruch ein und argumentierte, dass die Festsetzung einer Einkommensteuer nicht im Einklang mit dem Freizügigkeitsabkommen zwischen der EU und der Schweiz stehe, da sie den Wegzug in die Schweiz erschwere. Es erging ein Änderungsbescheid, mit dem die Einkommensteuer unter Anwendung des Teileinkünfteverfahrens auf 60 % des fiktiven Veräußerungsgewinns herabgesetzt wurde.

Im Klageverfahren gegen den Einkommensteuerbescheid für 2011 legte das Finanzgericht Baden-Württemberg dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) mehrere Fragen zur Vorabentscheidung vor. Mit Urteil vom 26.02.2019 (ECLI:EU:C:2019:138) entschied der EuGH, dass die Wegzugsteuer dauerhaft und zinslos zu stunden sei.

Die Bestimmungen des Abkommens zwischen der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Schweizerischen Eidgenossenschaft andererseits über die Freizügigkeit, unterzeichnet in Luxemburg am 21. Juni 1999, sind dahin auszulegen, dass sie einem Steuersystem eines Mitgliedstaats entgegenstehen, das in einer Situation, in der ein Angehöriger eines Mitgliedstaats, also eine natürliche Person, der im Hoheitsgebiet der Schweizerischen Eidgenossenschaft eine Erwerbstätigkeit ausübt, seinen Wohnsitz von dem Mitgliedstaat, dessen Steuersystem in Frage steht, in die Schweiz verlegt, vorsieht, dass die für die latenten Wertzuwächse von Gesellschaftsanteilen dieses Staatsangehörigen geschuldete Steuer im Zeitpunkt dieser Wohnsitzverlegung erhoben wird, während im Fall der Beibehaltung des Wohnsitzes im selben Mitgliedstaat die Erhebung erst im Zeitpunkt der Realisierung der Wertzuwächse, d. h. bei der Veräußerung der betreffenden Gesellschaftsanteile, erfolgt.

EuGH, Urteil vom 26.02.2019 (ECLI:EU:C:2019:138)

Das FG gab daraufhin der Klage statt und hob die festgesetzte Einkommensteuer auf. Hiergegen legte das Finanzamt Revision ein und begründete diese damit, dass die Festsetzung der Wegzugsteuer zulässig sei und die Frage der Stundung im Steuererhebungsverfahren geklärt werden müsse. Der Bundesfinanzhof (BFH) entschied schließlich, dass die Steuer festgesetzt werden darf, jedoch dauerhaft und zinslos zu stunden ist.

3. BFH-Urteil vom 06.09.2023 zur Wegzugsbesteuerung

Mit dem am 11.01.2024 veröffentlichten Urteil des BFH vom 06.09.2023 wurde zwar die Klage des Herrn Wächtler gegen das Urteil des Finanzgerichts Baden-Württemberg abgewiesen, aber eine dauerhafte und zinslose Stundung der festgesetzten Wegzugsteuer bis zum Zeitpunkt der tatsächlichen Veräußerung der Geschäftsanteile angeordnet.

Die Revision des FA ist begründet und führt zur Aufhebung des FG-Urteils und zur Abweisung der Klage (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 FGO). Auch wenn auf der Grundlage des im Verlauf des finanzgerichtlichen Verfahrens ergangenen EuGH-Urteils Wächtler § 6 AStG geltungserhaltend mit der Maßgabe anzuwenden ist, dass die Wegzugsteuer im Rahmen des Steuererhebungsverfahrens dauerhaft und zinslos von Amts wegen zu stunden ist, kann sie im (hier angegriffenen) Einkommensteuerbescheid festgesetzt werden.

BFH, Urteil vom 06.09.2023, I R 35/20

Insoweit steht das Urteil des BFH vom 06.09.2023 in Widerspruch zu dem BMF-Schreiben vom 13.11.2019 (BStBl. I 2019, 1212).

4. Weitere Rechtsfolgen aus dem Urteil des BFH vom 06.09.2023

Erfolgte der Wegzug in die Schweiz vor dem 01.01.2022, muss das Finanzamt eine festgesetzte Wegzugsteuer bis zu einer tatsächlichen Veräußerung der Anteile dauerhaft und zinslos stunden. Dies gilt auch dann, wenn die Wegzugsteuer bereits gezahlt wurde. In diesem Fall ist die Stundung rückwirkend zu gewähren.

Die hiernach vom Freizügigkeitsabkommen zwischen der EU und der Schweiz geforderte Stundung wird nicht durch die Zahlung der Wegzugsteuer durch den Kläger ausgeschlossen. Nach der Rechtsprechung des BFH geht eine nach Entrichtung der Steuer ausgesprochene Stundung nicht “ins Leere”. Sie kann vielmehr auch für bereits vergangene Zeiträume und auch für bereits gezahlte Steuern gewährt werden (BFH, Urteil vom 22.04.1988, III R 269/84; Urteil vom 08.07.2004, VII R 55/03).

BFH, Urteil vom 06.09.2023, I R 35/20

Fraglich ist, ob das Finanzamt die Stundung von einer Sicherheitsleistung abhängig machen kann.

Zudem ergeben sich aus dem Urteil des BFH vom 06.09.2023 weitere spannende Rechtsfragen, die über den entschiedenen Einzelfall hinausgehen und in den kommenden Monaten wohl ebenfalls entschieden werden.

Handelt es sich um einen Wegzug in einen EU-/EWR-Staat vor dem 01.01.2022, wurde eine dauerhafte und zinslose Stundung der Wegzugsteuer versagt, wenn der Wegzug in ein Land erfolgte, wo die Veräußerung der Beteiligung an einer Kapitalgesellschaft keiner der deutschen Einkommensteuer vergleichbaren Steuer unterliegt. Diesbezüglich ist angesichts der Entscheidungen des EuGH und des BFH zu erwarten, dass auch in diesen Fällen eine dauerhafte, zinslose Stundung geboten ist. 

Nach aktueller Rechtslage ist gem. § 6 AStG bei einem dauerhaften Wegzug aus Deutschland nach dem 31.12.2021 unabhängig vom Zielstaat eine Wegzugsteuer festzusetzen, die auf Antrag – und in der Regel gegen Sicherheitsleistung – in Raten über sieben Jahre gezahlt werden kann. Diese Rechtslage ist mit den Entscheidungen des EuGH und des BFH wohl nicht haltbar.

Insoweit ist damit zu rechnen, dass der Gesetzgeber alsbald wieder die alte Rechtslage herstellen wird, d.h. die dauerhafte und zinslose Stundung ohne Sicherheitsleistung für Wegzüge in EU-/EWR-Staaten.

Udo Schwerd:
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